Das Ringen um Freiheit

Der Schweizer Komponist Dieter Ammann

takte: Herr Ammann, was sind die wichtigsten Kompositionen Ihrer bisherigen Zeit als Komponist? Gab es Etappen oder Zäsuren?

Ammann: Ich muss vorausschicken, dass es mir wichtig ist, einen Personalstil zu formen, natürlich nicht, um sich dann selber zu kopieren, sondern um damit einen Weg in eine selbst gewählte Richtung zu gehen. Es gibt einige Zäsuren: Die eine war nach den ersten beiden Stücken, die noch von seriellem Denken geprägt waren, „Developments“ (1993) und „piece for cello“ (1994/1998). Bei dem Cellostück sind die Tonhöhen noch sehr streng behandelt, rhythmisch und klangfarblich bin ich jedoch schon intuitiv vorgegangen. Und auch „Regard sur les traditions“ (1995) ist im Tonhöhenbereich recht erklärbar. Danach wird es immer intuitiver. In „The Freedom of Speech“ (1995/96) ist diese Freiheit bereits Programm, obwohl der Titel auch mit dem Tod meines Vaters zu tun hat. Hier habe ich zum ersten Mal den bisweilen mühsamen Weg gewählt, einen Anfang zu setzen und daraus das Folgende zu entwickeln.

Dann gibt es für mich Stücke, wo ich persönlich weitergekommen bin: Zunächst „Gehörte Form – Hommages“ (1998). Ich hatte sieben Monate Zeit, in Weimar daran zu arbeiten, das hat sich in den zeitlichen Dimensionen und der klanglichen Elaborierung dieser drei Streichinstrumente niedergeschlagen. Nächste Schritte sind wenig später „Violation“ (1998/99), wo die Beziehung zwischen Soloinstrumenten und Ensemble thematisiert wird. Dann kommen drei Orchesterstücke: bei „Boost“ (2000/01) habe ich eindeutig auf „Grooves“ (2000) Bezug genommen, und bei „Core“ (2002) nochmals auf „Boost“. Schließlich habe ich beim Klaviertrio „Après le silence“ (2004/05) in der Ausdrucksbreite noch auf größere Extreme hin gearbeitet. Diese Extreme dann unter einen Bogen zu bringen, ohne dass die Musik zerfällt, war für mich ein Schritt nach vorne.

Sie haben Begriffe benutzt wie Szenenwechsel, also theatralische Beschreibungen Ihrer Musik. Viele Komponisten nehmen literarische Werke zur Inspiration oder Werke der bildenden Kunst zur Anregung für die Struktur oder emotionale Themen. Haben Sie solche Interessen?

Musik ist für mich genau das Medium, das eben keine Inhalte außer sich selbst transportieren muss. Ich gehe daher nicht von solchen Anregungen aus. Was ich versuche, ist, meine akustische Vorstellung in eine auch für andere sinnvolle oder zumindest anregende Form zu bringen. Das sind immer rein akustische Wahrnehmungen, immanent musikalische Vorgänge.

Sie bilden in Ihrer Musik häufig extreme Spannungskontraste aus, stellen also Strukturen gegeneinander, die ein schnelles Wechselspiel etwa zwischen sehr energetischen, bewegten und sehr ruhigen Zonen ausprägen, und diese bilden sich jeweils aus äußerst komplex geschichteten Einzelereignissen.

Das hängt mit meiner persönlichen Vorliebe beim Gestalten von musikalischen Verläufen zusammen. Ich bin ein ungeduldiger Mensch und mag es, wenn ich überrascht werde, wenn ich als Hörer in ein Wechselbad von musikalischen Zuständen geworfen und mitgerissen werde. Mir ist Musik, die mich quasi „anspringt”, lieber als solche, bei der ich erst siebzehn Türen öffnen muss, bevor ich herausfinde, was die Substanz sein könnte, worauf es dem Komponisten ankommt. Das heißt, wenn ich schreibe, dann immer auch für mich als Hörer, das ist natürlich ein subjektives Verfahren. Jedenfalls hat diese Neugier und Ungeduld dazu geführt, dass ich, außer in zwei frühen Stücken, aufgehört habe, in langen Verläufen mit einem Material zu arbeiten und dieses in all seinen Facetten zu beleuchten. Vielmehr ist es so, dass gewisse Regeln, die ich mir gebe, bisweilen auch nur ganz punktuell wirken. Wenn ich merke, dass ich gerne einen anderen Hörverlauf hätte, nehme ich mir die Freiheit und modifiziere oder verlasse das Material. Das war einerseits eine Befreiung, andererseits kann man sich nicht hinter der akademischen Kunst der Materialbehandlung und Beleuchtung verstecken, weil man völlig subjektiv für sich entscheiden muss, ob diese Idee, diese Klangfindung standhält und sich legitimiert. Das sind extrem subjektiv gefundene Klangvorstellungen, die ich dann versuche, in einem dieser Vorstellung möglichst adäquatem Material wiederzugeben. Deshalb gibt es auch tonale Gebilde bei mir, manchmal Räume, in denen Dissonanz und Konsonanz unterscheidbar sind, dann aber auch wieder das chromatische Total bis in die Vierteltönigkeit hinein, die ich dann als nochmalige Differenzierung der Chromatik verstehe. Ich finde es spannend, etwas Direktes, Haptisches zu gestalten und trotzdem musikalische Tiefe im räumlichen Sinn zu schaffen, so dass man bei einem wiederholten Hören Dinge dahinter wahrnehmen kann, die einem beim ersten Mal gar nicht bewusst waren.

Sie werden wahrscheinlich oft auf den Jazz angesprochen. Es ist klar, dass Improvisieren etwas anderes ist als Komponieren. Trotzdem wird es ja Bezüge geben.

Über meinen Vater, der Naturwissenschaftler und Lehrer war, ging mein Zugang zur Musik zunächst über das Spielen nach Gehör. Auch heute noch ist für mich die Notation immer ein Umweg. Ich denke, ich habe ein anderes Verhältnis zu rhythmischen Aspekten. Es gab und gibt viel neue Musik, in der es nie pulsen darf. Ich weiß nicht mehr genau, von welchem Komponisten der Ausspruch stammt, das Problem der neuen Musik sei, dass alles Rubato sei. Zudem spürt man meinen Ursprung als interpretierender Musiker in der Instrumentalbehandlung. Mir ist wichtig, dass spieltechnisch zwar Grenzen ausgelotet werden, dass die Musik aber immer realisierbar bleibt. Dabei habe ich gemerkt, dass sich meine Intention mit den technischen Möglichkeiten des Instruments sehr oft trifft, dass ich irgendwie aus dem Instrument heraus fühle und denke. Ein Wesenszug aus der improvisierten Musik ist auch, dass sie fast in jedem Moment dialogisch angelegt ist. Dieses Actio-reactio-Prinzip versuche ich auch in der komponierten Musik zwischen Instrumentalgruppen oder einzelnen Instrumenten zu realisieren, vielleicht wirkt es auch deshalb so lebendig.

Schließlich eine ganz allgemeine Frage: Müssen Sie komponieren?

Ich habe ja tatsächlich wegen einer Anfrage von außen begonnen zu komponieren. Ich würde niemals ohne Auftrag schreiben. Aber: Wenn ich komponiere, bin ich so damit beschäftigt, dass über Monate ein Stück wie ein roter Faden durch mein Leben läuft. Es kann sein, dass ich mich ein Jahr lang mit fünfzehn Minuten Musik beschäftige. Ich bin auch ein Familienmensch, liebe meine Kinder und meine Frau sehr, und unterrichte gerne. Aber wenn ich komponiere, kann ich mich monatelang in eine Klangwelt begeben, und das brauche ich mittlerweile extrem. Es kommt noch etwas hinzu: Ich habe das Gefühl, dass ich in der komponierten Musik etwas zu sagen habe, das andere nicht oder anders sagen würden. Ich glaube, dass ich da etwas leisten kann, wofür sich eine lebenslange Beschäftigung lohnt. Ich war ja, bis ich dreißig war, nicht Komponist im engeren Sinn, sondern Interpret, Instrumentalist. Natürlich habe ich in Bands Stücke entwickelt, aber das ist etwas ganz anderes als das „akademische Komponieren”. Hier gibt es etwas Eigenständiges, das wirklich etwas von mir enthält, etwas Persönliches.

Ein kurzer Ausblick: Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich werde in den nächsten Monaten mit der Komposition meines zweiten Streichquartetts beschäftigt sein. Daneben wird meine Unterrichtstätigkeit an den Musikhochschulen Luzern und Bern viel Zeit und Energie absorbieren. Im Frühling 2009 werde ich einer Einladung Schweizer Festivals „les muséiques” als Composer in residence nachkommen und mich dort auch als Musiker im Freefunk-Bereich präsentieren. Für 2010 steht eine weitere Einladung eines großen Festivals an. Mit dem damit verbundenen Auftragswerk nehme ich mich einer kompositorischen Aufgabe an, die ich schon seit längerer Zeit in mir trage: ein mehrheitlich ruhiges Stück für Orchester zu schreiben, welches fähig sein soll, sich mit meinen beiden Orchesterwerken Boost und Core zu einer schlüssigen Trilogie zu vereinen.

Gesprächpartnerin: Marie Luise Maintz

aus: takte 2/2008